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Das innere Feuer am Brennen halten

Auch im Parasport gilt: die Sportpsychologie soll eine individualisierte Betreuung für ein stabiles Selbst und einen gesunden inneren Antrieb anbieten. Wie gestaltet sich die sportpsychologische Betreuung von Athletinnen und Athleten mit einer körperlichen Behinderung? Drei Fallbeispiele aus der Praxis.
Sylvie ist eine 24-jährige junge Frau, energiegeladen, vielseitig interessiert. Und sie hat die Matura und einen Lehrabschluss im persönlichen Rucksack. Was nicht sofort sichtbar wird: Ihr linker Unterschenkel ist amputiert. Sie trägt eine Prothese, die sie mit eleganten, weiten Hosen gut kaschiert. Eine Geburtskomplikation führte zu einer Fehlstellung des Fusses, was zu vielen Operationen und Therapien in ihrer Kindheit führte. Auch heute noch sind die Anpassungen ihrer Prothese ein fester Bestandteil ihres Lebens. Sylvie beschreibt sich als Bewegungsmensch, der immer und überall mitgemacht habe. Als sie etwa 18 Jahre alt war, wurde sie von PluSport – dem Dachverband für die Förderung von Menschen mit Behinderung im Breiten- bis Spitzensport – angesprochen. Seither wird sie in der Leichtathletik gefördert auf ihrem Weg bis zur internationalen Spitze. Auch die Sportpsychologie ist Teil ihrer Entwicklung.
Unterscheidet sich die sportpsychologische Betreuung von Sportlerinnen und Sportler mit einer körperlichen Behinderung – auch Para-Athletinnen und Para-Athleten genannt – von der «normalen» sportpsychologischen Betreuung? Und falls ja, wie? Anhand von zwei weiteren Klienten-Beispielen werden diese Fragen beantwortet.
Unfall und Erkrankung
Bruno verunfallte mit 29 Jahren schwer mit dem Gleitschirm und erlitt eine Querschnittlähmung. Es folgte eine monatelange Unfallrehabilitation, eine berufliche Neuorientierung und der Umzug in eine rollstuhlgängige Wohnung. Die IV unterstützt ihn finanziell, so dass er neben seinem Teilzeit-Job den notwendigen Therapien nachgehen kann. Vieles, was er früher unternommen hat, kann er heute nicht mehr machen. Doch er entdeckte auch neue Tätigkeiten, etwa das Rollstuhl-Rugby. Anfangs habe er den sozialen Austausch dabei geschätzt und dass er sich wieder voll in etwas hineingeben konnte. Heute, inzwischen 36-jährig, ist er im Kader und reist mit der Nationalmannschaft an Turniere auf der ganzen Welt.
Im Gegensatz zu Brunos Schicksalsschlag am Tag x, als er verunfallte, war es bei Lara ein monatelanger Prozess der Erkrankung. Anfangs war da das Gefühl, dass «etwas nicht mit mir stimmt», als sie Gleichgewichtsstörungen wahrnahm. Dann folgten diverse Abklärungen, bis sie die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhielt. Laras Nervensystem entzündet sich, was zu den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen führt, die chronisch fortschreiten. Zehn Jahre nach der Diagnose ist Lara, heute 47-jährig, wegen Lähmungen im Rollstuhl und leidet an extremer Müdigkeit. Auch sie sei ein Bewegungsmensch gewesen, immer auf Achse. Zu akzeptieren, dass sie vieles nicht mehr oder nicht so lange kann, auch wenn sie noch so wolle, fällt ihr noch heute zeitweise schwer. Um gegen die sich verschlimmernde Erkrankung mit Struktur und Fokus anzukämpfen, hat sie sich entschieden, dem Bogenschützen-Verein beizutreten. Rollstuhlsport Schweiz fördert sie in dieser Para-Sport-Disziplin. Trotz schlechter Prognose träumt sie von einer Teilnahme an den Paralympics.
Die Autorin
Romana Feldmann ist Fachpsychologin für Sportpsychologie FSP und arbeitet in eigener Praxis mit Klientinnen und Klienten aus Sport und Wirtschaft. Am nationalen Leistungszentrum für Rollstuhlsport in Nottwil hat sie die psychologische Leitung inne. Im Jahr 2021 begleitete sie die Schweizer Delegation an die Paralympics in Tokio.

Fachpsychologin für Sportpsychologie FSP
Parasportpsychologische Betreuung
Die Biografien von Sylvie, Bruno und Lara zeigen, wie unterschiedlich die Lebenssituationen sowie die sportlichen Voraussetzungen der Para-Athletinnen und -Athleten sind. Auch wenn in der sportpsychologischen Betreuung bei nicht beeinträchtigten Sportlerinnen und Sportlern ebenfalls immer hinter jedem Athleten ein Mensch steht, muss beim paraathletischen Sport noch stärker der Kontext berücksichtigt werden. Para-Athletinnen und -Athleten brauchen eine individualisierte sportpsychologische Betreuung. Wie sieht eine solche aus?
Um einen Vergleich der sportlichen Leistungen in Hinblick auf Kraft, Ausdauer, Taktik und mentaler Stärke zu ermöglichen, werden die Athletinnen und Athleten von internationalen Fachleuten bezüglich ihrer körperlichen Einschränkungen «klassifiziert», so dass Sportlerinnen und Sportler mit ähnlichen Voraussetzungen in gleichen Gruppen starten können. Diese Unterteilung notwendig, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Allerdings schmälert die Komplexität der vielen verschiedenen Kategorien die Attraktivität des Sports. Dennoch hat der Para-Sport in den letzten Jahren eine grosse Professionalisierung erfahren, etwa betreffend Material, Präsenz in den sozialen Medien und Sponsoring sowie im körperlichen und psychologischen Training. Das mentale Training gehört heutzutage zum Trainingsalltag dazu, etwa zur Psychoregulation, zur Konzentrationslenkung oder Emotionskontrolle.
Im Grundsatz sind die (sport-)psychologischen Fragestellungen im Leistungssport bei Para-Athletinnen und -Athleten die gleichen wie bei nicht beeinträchtigten Sportlerinnen und Sportlern. Wichtig dabei ist etwa die Unterstützung der psychologischen Grundbedürfnissen gemäss dem deutschen Psychotherapieforscher Klaus Grawe: Anerkennung und Wertschätzung erfahren, sich in ein soziales Netzwerk eingebunden fühlen oder Orientierung und Kontrolle erleben. Und gerade im Sport sind zentral: Der Schutz und die Entwicklung des Selbstwerts. Die wissenschaftliche Datenlage bezüglich (sport-)psychologischer Bedürfnisse und Besonderheiten von Paralympioniken ist dünn.
Dies zeigte eine Studie aus Südafrika aus dem Jahr 2019 anhand einer systematischen Recherche. Die ersten Paralympics fanden 1960 statt und somit sind die Olympischen Spiele – erstmals in Athen 1896 veranstaltet – natürlich einen Schritt voraus. Das Argument, dass die Stereotypisierung von Menschen mit Behinderung und die entsprechenden Reaktionen der Behindertenrechtsbewegung die Entwicklung gebremst hätten, lässt sich hierzulande nicht bestätigen. Vielmehr liegt es wohl wie oben eingeführt eher daran, dass aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen der Athletinnen und Athleten eine Vergleichbarkeit sehr schwierig ist.
Erlernen von mentalen Tools
Gehen wir zurück zu Bruno: sein Unfall mit dem Gleitschirm und die daraus resultierende Paraplegie stürzte ihn in eine Krise. Während der monatelangen Rehabilitation standen für Bruno seine Familie, die ihn täglich besuchte, der Austausch mit Betroffenen und die kleinen Fortschritte auf dem Weg in die Selbstständigkeit im Vordergrund. Einer psychologischen Betreuung während der Rehabilitation stand er skeptisch gegenüber. Der Schritt zur Sportpsychologie war für ihn Neuland. Allerdings sagte er, dass die sportpsychologische Beratung eine umso wichtigere Erfahrung ist, weil sie lösungs-, handlungsorientiert, klar und konkret sei, was ihm zusage.
Natürlich kann eine psychologische Begleitung in einer Krise nicht mit einem sportpsychologischen Coaching verglichen werden. Doch das Beispiel von Bruno zeigt exemplarisch auf, dass aufgrund negativer Erfahrungen mit psychologischer Betreuung die Beziehungsarbeit besonders wichtig ist und allfällige Widerstände zuerst aufgebrochen werden müssen. Die sportpsychologische Betreuung bei Bruno startete mit dem Erlernen von «mentalen Tools», etwa wie er sich nach einem Ballverlust beim Rollstuhl-Rugby mit Selbstgesprächen wieder auf seine Aufgabe konzentrieren kann.
Später konnte auch sein Unfall und die darauffolgende schwierige Zeit in die sportpsychologische Beratung aufgenommen werden. Die Erfahrungen aus dieser Zeit kann Bruno als Ressource nutzen: Was hat er in der Rehabilitation gelernt, was ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist? Welche mentalen Stärken hat er – gezwungenermassen – entwickelt? Krisen oder kritische Ereignisse können auch Katalysatoren für psychische Reifung und persönliches Wachstum sein, bekannt als posttraumatisches Wachstum, wie etwa die deutsche Psychologin Judith Mangelsdorf aufzeigte.
Reifung und positive Psychologie
Im Gegensatz zu Bruno ist Sylvie mit ihrer Behinderung aufgewachsen. Oft sind Eltern von Kindern mit Einschränkungen überbehütend. Dies bedeutet in vielen Fällen, dass die Kinder vieles für selbstverständlich sehen und lernen müssen, sich für ihre Bedürfnisse selbstständig einzusetzen. Sylvies Eltern aber haben versucht, sie «ganz normal» zu erziehen und gleich wie ihre Geschwister zu behandeln. Sylvie ist heute sehr selbstständig und absolviert bis zu 20 Stunden Training pro Woche.
In der sportpsychologischen Beratung haben sich nebst wettkampfspezifischem Mentaltraining weitere Themen aufgetan: So wurde etwa hinter ihrem starken inneren Antrieb der Wunsch nach «Normalsein» aufgedeckt – was sie stets mit Überforderung kompensierte. Die Arbeit am «inneren Kind» und das Erlernen von Alternativen zum «Bewältigungsmodus Kampf» sowie Übungen aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) haben ihr geholfen, ihren Körper anzunehmen und sich mit mehr Selbstmitgefühl zu begegnen. Sie hat gelernt, Hilfe anzunehmen oder einzufordern und negative Glaubenssätze zu verändern. Diese Arbeit am Selbstvertrauen hat sie im Sport sowie im privaten Leben weiter reifen lassen.
Und wie sieht es bei Lara aus, die an MS erkrankt ist? Wie geht sie mit der schlechten Prognose ihres gesundheitlichen Zustands um? Wie begegnet sie Rückschlägen? Wie hält sie Tage aus, an denen sie nicht auf Touren kommt? Und welche Rolle kommt dem Sport zu? Im sportpsychologischen Coaching spricht sie vor allem auf Ansätze aus der positiven Psychologie an. Sie lernt, auch kleine positive Erlebnisse zu erkennen, dankbar für sie zu sein und eine optimistische innere Haltung zu pflegen: der Fokus wird auf das gerichtet, was geht. Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen vertiefen dabei den Prozess – für den Alltag, wie auch für eine ruhige Attitüde beim Bogenschiessen. Dass sie älter ist als die meisten, insbesondere auch im Vergleich zu Olympioniken, stört sie nicht. Viel eher sieht sie ihr Alter als Vorteil, alles etwas ruhiger anzugehen.
Kreativität ist gefragt
Bei allen drei Fallbeispielen zeigt sich, dass das Thema Akzeptanz eine wichtige Rolle spielt. Selbst wenn jemand schon jahrelang im Rollstuhl ist und dies gut in die eigene Biografie integriert hat, gibt es immer wieder schwierige Phasen, welche in der Betreuung zur Sprache kommen, wie Schamgefühle beim Verlust der Blasenkontrolle, die Darstellung in den sozialen Medien oder ganz generell das «Anderssein».
Die Sportpsychologie bedient sich verschiedener Konzepte und Modelle. Wichtig ist, zusammen mit dem Athleten oder der Athletin herauszufinden, was geht und was allenfalls wie angepasst werden muss. Kreativität ist gefragt und stets ein gutes Gespür, wann interveniert werden kann und wann es wichtig ist, die Expertise über Körper und der Situation dem Gegenüber zu überlassen. Die Förderung der Körperwahrnehmung ist dabei ein wichtiger Bestandteil.
Auch Trainer, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeuten und andere Fachleute arbeiten an individualisierten, optimalen Bedingungen für die Sportlerinnen und Sportler. Für deren Entwicklung ist daher ein interdisziplinärer Austausch mit allen Beteiligten zentral.
Wenn sportpsychologische Interventionen auch auf dem Trainings- oder Wettkampfgelände stattfinden, sind Respekt und Vertrauen von besonderer Bedeutung. Sind Athletinnen und Athleten auf Hilfe angewiesen, müssen auch Sportpsychologinnen und Sportpsychologen anpacken können, denn die Anzahl Betreuungspersonen ist nicht selten limitiert. Die Unterstützung kann sein, Gepäck zu verladen, eine Flasche zu öffnen, das Hotelzimmer den Einschränkungen entsprechend zugänglich zu machen oder falls es am Wettkampftag zeitlich eng wird, beim Umziehen zu helfen.
Stabiles Selbst und ein gesunder innerer Antrieb
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Para-Sport in den letzten Jahren eine enorme Professionalisierung erfahren hat: dies zeigt sich in der besseren sportlichen Leistung der Athletinnen und Athleten. In der sportpsychologischen Arbeit sollte immer der Person-Situation-Interaktion Rechnung getragen werden. Es gibt pro Sportart und Klassifizierung in der Schweiz jeweils nur wenige Athletinnen und Athleten. Diese können sich deshalb kaum in einem gegenseitigen Kräftemessen anspornen und motivieren. Welche Faktoren der mentalen Stärke braucht es, wenn eine solche «nationale Leistungsdichte» fehlt? Welche, wenn das Ansehen der Sportart gering ist? Und welche, wenn die sportlichen Erfolge als «Bonus» oder Luxus wahrgenommen werden? Oftmals steht nach einem Schicksalsschlag die Alltagsbewältigung im Zentrum der Para-Sportlerinnen und -Sportler. Zudem können sie mit Sport kaum Geld verdienen. oder ein Schicksalsschlag den Sport relativiert, er zu einem Luxus wird? Wo braucht es mehr Fokus und Entwicklung, und welche Grenzen gilt es (wie) zu akzeptieren?
Die Antwort auf diese Fragen ist oftmals:
«Sportpsychologinnen und Sportpsychologen sollten eine individualisierte Betreuung für ein stabiles Selbst und einen gesunden inneren Antrieb anbieten. Um sich weiterentwickeln zu können, müssen Para-Sportlerinnen und -Sportler das innere Feuer am Brennen halten, das sie dazu antreibt, sich in den Wettkampf zu investieren.»